Buchauszug

DU BIST EINE KÖNIGIN

„Du bist eine Königin
gefangen in einem Käfig gewebt aus Angst.
Im Tageslicht glänzen seine goldenen Fäden
und machen dich unsichtbar.
In der Sicherheit des Dunkels befreist du dich
und wandelst im Silberschein des Mondes.
Du bist die Königin der Nacht
und erhellst die dunkelsten Winkel der Seelen.“

FAHRSTUHL I

Ich weiß noch genau, dass ich beim Einsteigen gedacht habe, wenn der Fahrstuhl so voll ist, sollte ich lieber die Treppe nehmen. Aber ich hatte es eben eilig. Auf der Anzeige stand, dass die U8 Richtung Wittenau in 2 Minuten losfährt und ich wollte meinen Anschluss nicht verpassen. Es machte Ruck und ein lautes Tröten ertönte. Die Frau neben mir drückte zwei- dreimal den Knopf zum Öffnen der Tür. Das leise Stöhnen und Augenverdrehen der Leute wuchs zu einem Gemurmel und Geraschel heran bis ein Mann schnell und ein wenig schrill sagte: „Stecken geblieben.“ Während eine ältere Frau den Notknopf drückte und mit der freundlichen Stimme am anderen Ende der Leitung sprach, machte sich in mir eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Ohnmacht und Wut breit. Ich vernahm ein hysterisches Lachen von der Frau hinter mir und hörte von dem Mann im Anzug wieder diese Worte: „ … stecken geblieben. Ich werde es nicht rechtzeitig zum Meeting schaffen.“ Da wurde es mir mit der geballten Kraft, die Worten, die man niemals hören wollte, innewohnen können, bewusst: „Ich bin gerade stecken geblieben.“ Mir wurde schlagartig heiß und ich zog sofort mein Halstuch und meine Jacke aus. Ich hockte mich hin und hielt mein Gesicht an den kleinen Spalt der Fahrstuhltür. Ich spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper, meine Hände und Füße waren eiskalt, in meinem Kopf puckerte es. Alles begann sich zu drehen. Der Druck auf meiner Brust wurde unerträglich stark und ich dachte nur: „Du kannst hier nicht in Ohnmacht fallen; hier ist kein Platz.“ Ich wollte raus aus diesem Fahrstuhl und im Gegensatz zu all den Anderen musste ich hier auch raus und zwar jetzt sofort. Ich spielte in Gedanke durch, ob ich die Glasscheiben einschlagen könnte oder irgend etwas in meiner Handtasche hatte, um die Tür aufzustemmen. Die Erkenntnis, dass ich außer warten nichts tun konnte, löste eine weitere Hitzewelle und Schwindel in mir aus. Ich fühlte mich benommen und wie in Trance. Verzweifelt versuchte ich, gegen die drohende Ohnmacht anzukämpfen und mich von dem Gefühl des Gefangenseins abzulenken. Immer wieder tauchte in mir das Bild von einem schwarzen Panther im Käfig auf. Im Berliner Zoo hab ich vor einigen Jahren im Raubtiergehege einen Panther zur Fütterungszeit erlebt.

Dieses wunderschöne, elegante und kraftvolle Wesen, war nur noch ein Schatten seiner Selbst. Abgestumpft und mit leerem Blick lief das Pantherweibchen träge von links nach rechts und wieder zurück. Weder die gaffenden Zuschauermassen, noch das rohe Fleisch entlockten dem Tier eine Regung. In meinen Gedanke hörte ich leise eine Stimme sagen: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“ Nur dass es in diesem Fall gar keine Stäbe gab, sondern nur eine riesige Glasscheibe. „Wie grausam“, dachte ich. Die Gitterstäbe sind zwar keine Mauer, aber sie geben anders als die Glasscheibe wenigstens nicht den Blick auf das Draußen in voller Gänze frei. Um mich vom Eingesperrtsein abzulenken, suchte ich panisch nach einem Konzentrationspunkt. Die extravaganten Manschettenknöpfe des Anzugträgers, die wie ein Miniwollknäuel aussahen, die Bernsteinbrosche der älteren Dame, die resolut mit dem Herrn der Notfallzentrale sprach, der ausgefallenen silberne Ring, dessen Mittelteil aus dunklem Holz bestand, der dem jungen Mann mit den alten Augen gehörte. Alles versuchte ich festzuhalten, doch die Bilder entglitten mir wieder, wie ein Traum nach dem Aufwachen, der fast schon vergessen ist. Der Versuch, etwas zu fokussieren, endete in einem Karussel aus Gegenständen, wobei einer den anderen ersetzte bis ich schließlich auf meine geschlossene Hand schaute. Ich merkte plötzlich, dass ich etwas festhielt. Als ich die Hand vorsichtig öffnete, sah ich eine kleine weiße Muschel. Ich betrachtete den Linienverlauf und konnte die Rillen mit meinen Fingern erfühlen. Sie war weiß und wurde zur Spitze hin gelblich. Sie sah schön aus in ihrer Einfachheit auf meiner noch leicht gebräunten Hand. Im Augenwinkel sah ich das Blau meiner Strickjacke und musste unwillkürlich an das Meer denken. Wellenrauschen in der Ferne, ein weiter Sandstrand, die Luft roch nach Salz, kein Mensch weit und breit. Ich spürte, dass ich tief einatmete und sich mein Herzschlag verlangsamte. Ich muss die Muschel unbewusst aus der Jackentasche genommen haben. Sie war vermutlich noch vom Urlaub in der Normandie dort.

DER PRINZ

Amir ist ein attraktiver und charmanter Mittdreißiger, der einen Faible für Autos, Musik und hippe Klamotten hat. Er ist gelernter Tischler, versteht sich selbst aber eher als Geschäftsmann. Von klein auf hat er seinen Vater dabei beobachtet, wie dieser Restaurants geführt und Autos verkauft hat. Während sein Vater in jungen Jahren dem einfachen Bauerndasein in Syrien entfloh und in Deutschland, danach strebend etwas Besseres zu finden, erkennen musste, dass er nie richtig dazu gehören würde, entstammt seine Mutter einem humanistisch geprägten Elternhaus, in welchem ihrem Geist und Körper keine Grenzen gesetzt wurden. Sie wurde frei geboren, grenzenlos erzogen und hat sich mit ihrer Ehe zu Amirs Vater ihr ganz persönliches Gefängnis erschaffen. Als Amir sechs Jahre alt war, kam sein Vater eines Abends nach Hause, setzte sich an den Esstisch, probierte das Abendessen, spuckte es auf den Boden, schmiss den Teller samt Inhalt an die Wand und beschimpfte Amirs Mutter als grauenvolle Köchin und nutzlose Ehefrau. Der Blick war voller Verachtung, die Augen seines Vaters glänzten, die Adern an Hals und Stirn pulsierten. Er zog seinen Gürtel aus, faltete ihn und begann, Amirs Mutter damit zu schlagen.

Sie stand da, still und leise, ihr Blick war leer, wartend bis der Sturm vorüberzog. Amirs Vater stand bereits der Schweiß auf der Stirn, das Gesicht hatte rote Sprenkel bekommen, er schnaubte und sein ganzer Körper bebte. Dann endlich ließ er den Gürtel erschöpft fallen, sank auf die Knie und weinte jämmerlich, wie ein kleines Kind. Amirs Mutter nahm ihn in den Arm und brachte ihn ins Schlafzimmer. Amir hasste seinen Vater und je älter er wurde, um so öfter griff er ein, wenn sein Vater wieder mal auf seine Mutter losging. Seine beiden älteren Brüder wehrten sich meist nicht gegen die Gewalt und ergriffen niemals Partei für ihre Mutter. Sie sahen die Prügel als gerechte Strafe für ein vermeintliches Fehlverhalten ihrerseits oder der Mutter an und akzeptierten, dass dies der Versuch ihres Vaters war, sich seinen verdienten Respekt von der Familie einzufordern. Nur Amir rebellierte, lehnte sich auf, stürzte sich dazwischen, versuchte verzweifelt, seinem an Kraft und Grausamkeit überlegenen Vater einen Widerstand entgegen zu stellen. Beinahe schien es so, als hätte Amir die Worte, die seine Mutter ihm kurz nach seiner Geburt lautlos ins Ohr gehaucht hatte, verstanden. „Amir, du bist mein letztes Kind. Ich weiß, dass du für mich kämpfen wirst.“

DER BRIEF

Lieber Lukas,
ich hab so ein Bild von mir im Kopf, wie ich mit achtzig meinen Enkelkindern erzähle, was es mit dem zerfledderten Buch mit dem klangvollen Titel „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ auf sich hat – ich hoffe wirklich sehr, dass meine Enkelkinder überhaupt noch wissen, was ein echtes Buch ist. Ich werde Ihnen erzählen, dass dieses Buch ein Erinnerungsstück ist, an einen besonderen Menschen und einen besonderen Moment. Und dass es mir unter all meinen Büchern das Wertvollste ist. Denn es wird mich für immer an dich erinnern, daran, dass unsere Seelen sich gestreift haben. Ohne es zu wissen, hast du mich berührt, als kein anderer es konnte. Du hast mich eine Sehnsucht spüren lassen, die ich mir nicht mehr erlaubt habe, die unerträglich schön ist. Ich werde Ihnen erzählen, dass Seelen sich manchmal erkennen und umarmen lange bevor es Körper tun und diese Berührungen wahnsinnig intensiv sind. Ich werde Ihnen sagen, dass sich diese Mikromomente im Alltag oft sehr schnell verflüchtigen und es daher wichtig ist, sie festzuhalten und sich ihrer von Zeit zu Zeit zu erinnern. Auch wenn ich Ihnen nur allzu gerne sagen würde, dass sie jene Seelen unbedingt an sich binden sollten und nie wieder gehen lassen dürfen, so werde ich Ihnen erklären, dass wir manchmal eben gerade die Menschen, die uns so unter die Haut gehen, loslassen müssen. Denn kein Mensch kann einer solchen Sehnsucht auf Dauer gerecht werden. Sie würde ihn oder sie erdrücken und ein Gefühl der Unvollkommenheit erzeugen. Kein Mensch sollte die Bürde tragen, einen anderen glücklich machen zu müssen. Ich glaube, dass wir uns berühren konnten, weil wir uns beide auf der Suche nach der selben Sache befinden. Jeder von uns hat tief in sich verborgen, diese unschuldige und kraftvolle Vorstellung von Liebe. Ein Teil von uns glaubt immer noch, dass es sie wirklich gibt, die Liebe, die uns ohne Bedingungen begegnet, ohne Anstrengung findet, uns rettet und für immer jede Leere in jedem Winkel unserer Seele füllt.
Deine Helena

HUNDEAUSLAUFGEBIET

Jeden Morgen ging Helena im Wald joggen. Es war ein Ritual geworden seit dem sie in der Klinik angekommen war. Anfangs fühlte es sich schrecklich an. Angespannt und nach drei Minute bereits nach Luft japsend kämpfte sie 15 Minuten lang gegen den Drang, das Ganze abzubrechen, an. Sie hatte davon gehört, dass Joggen entspannt und den Kopf klar werden lässt. Manche sprachen von einem Gefühl der Euphorie. Sie hingegen spürte Schmerzen: in ihrer Lunge, in den Beinen, in ihrem Kopf. Nach 15 Minuten wollte sie sich nur noch auf den Waldboden fallen lassen und dort liegen bleiben, für immer bis sie verfault und von Würmern zerfressen selbst zum Waldboden würde. Stattdessen spazierte sie noch eine Runde, setzte sich auf eine Bank, auf die ein paar Sonnenstrahlen durch das Herbstlaub fielen und machte eine der Atemübungen, die sie gelernt hatte. Sie hatte keine Ahnung, dass er sie beobachtete. Ihr war wohl aufgefallen, dass Lukas sich zum Küchendienst mit ihr gemeldet hatte und erstaunlich regelmäßig an den Spieleabenden teilnahm. Allerdings schien er ohnehin ein offener, ein gutes Gespräch suchender Frauenversteher zu sein. Ziemlich schnell hatte er mit den zwei anderen Neuen Frauke und Sylvi angebändelt. Die drei waren unzertrennlich. Sie spürte, dass sie gerne zu diesem Dreiergespann dazu gehören wollte. Aber warum? Klar Frauke war ganz nett und schien auch eher reflektiert zu sein, Sylvi hingegen wirkte irgendwie, als sei sie mit ihrem Auto in den Treibsand gefahren. Da ging nichts vor und nichts zurück, obwohl sie ständig in Bewegung war. Aber ihr Klavierspiel, das hatte Helena berührt und für diesen Moment war sie ihr unendlich dankbar. Sie hatte „Comptine d`un autre été“ aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ gespielt.

Dieses Lied, der Klang des Klaviers, der Film, all das erinnerte Helena an eine Zeit, an ein Ich, das sie hinter sich gelassen hatte, um jemand anderer zu sein. Sie sehnte sich nach dieser Version von sich, dieser jungen Frau, die jedes Gefühl in seinem ganzen Ausmaß fühlen konnte, ohne Angst davor zu haben, die an die Liebe glaubte, die in alles und jeden, der sie berührte, ihr Herz und ihre Seele legte, die genau wusste, dass der Schmerz zu ihrem Leben gehörte und dass nur wer die Tiefen durchlebt auch die Höhen erreichen kann. Sie hatte sich selbst verloren, vielleicht hat sie ja auch nur ein paar Jahre Urlaub von sich selbst gemacht und jetzt war es an der Zeit, mit der Erfahrung, dass eine nach Außen perfekt schillernde Version von ihr, ihr Leuchten beinah ausgelöscht hatte, einen Neustart zu wagen. Sie fühlte sich hoffnungsvoll und stark, während sie immer noch auf der Bank im Hundeauslaufgebiet lag und atmete. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihre Laufstrecke in den ersten Tagen immer an die Spaziergänger mit ihren Hunden angepasst hatte. Sie war ihnen möglichst aus dem Weg gegangen, bloß keine Konfrontation. Mittlerweile rannte sie direkt auf sie zu, den jeweiligen Hund fest im Blick und den dazugehörenden Menschen freundlich anlächelnd. Lukas hatte sich in einiger Entfernung von ihr hinter einem Baum versteckt. Er hatte seine Kamera dabei und für den Fall, dass sie ihn entdeckte, würde er einfach so tun, als ob er seine neue Kamera ausprobiere. Als er sie so daliegen sah – die Sonne fiel durch das Blätterdach und tauchte sie in dieses ganz besondere Herbstlicht – hatte er den Eindruck, sie würde strahlen, als ob ein warmes Licht aus ihr heraus trat und alles um sie herum erstrahlte. In der kommenden Kunsttherapie malte er ein Bild von ihr.

#katha.rosen

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